sehr zu meiner Freude ist Irve liest wieder Gast-Rezensentin.
Schon der
Prolog fängt mich ein, verzaubert mich mit seiner Sprache.
Lilly
Lindner trifft nicht ins Herz, sie trifft in die Seele. Mitten hinein.
Ansatzlos. Immer wieder.
Lässt mich
häufig anerkennend nicken, betrübt zustimmen, erstaunt ihre Weisheiten
erfassen. Manchmal trifft die Autorin so tief und bedrückend, dass Tränen
fließen, die Verzweiflung überhand nimmt, sich mein Herz verkrampft. An anderen
Stellen wiederum verwendet sie eine bunte Farbpalette für ihre Wortmagie und
lässt mich unwillkürlich und manchmal auch ungewollt laut lachen.
Großartige
Textstellen mit Post-its oder anderem Zubehör markieren? Vergesst es! Für mich
ist das gesamte Buch ein einziges anführungswürdiges Zitat.
„Menschen
sind Sichtwaisen. Sie sind blind.“
Wie auch
schon bei „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ konnte ich dieses Buch nicht aus der Hand legen. Das liegt zum einen
sicher an der emotionalen optischen Aufbereitung in Form von Lisa Wöhlings
wunderschönen Illustrationen, aber in erster Linie an Lilly Lindners
sprachlicher Umsetzung. Die Wortgewalt, das magische Spiel mit den Buchstaben,
die Stimmungen, die wie ein Wimpernschlag umschwenken, der häufig mit Humor
gepaarte Zynismus, dass sich beim Lesen die Lachtränen mit denen der
Verzweiflung vermischen, während man die kleinen und großen Wahrheiten erkennt.
Auch den Protagonisten gehörte mein großer Respekt. Ihre Schilderung, ihre
charakterliche Zeichnung. Einerseits waren sie mir so fremd, andererseits oft
so nah, dass ich mich sehr gut in sie hineinfühlen konnte.
„Ich
wusste nicht, wovon sie redete. Aber ich wusste, man kann ein Gefühl begreifen,
ohne es zu verstehen.“
Mit wenigen
Worten erzeugt die Autorin grandiose Bedeutungstiefen und wie bei den Menschen,
um die es hier geht, lohnt sich auch bei der Textbetrachtung ein zweiter Blick,
ein genaueres Hinsehen und man wird mehr erkennen, als man im ersten Moment zu
sehen glaubt.
An vielen
Stellen mag der Roman kryptisch erscheinen, aber wenn man ihn aus dem
Blickwinkel des autobiographischen Charakters liest, erhalten selbst Sätze wie
„die Zeit totschlagen“ eine metaphorische und tiefe Bedeutung.
„Vor
mir, in einem viel zu begrenzten Dasein, sitzt die Befremdlichkeit in Gestalt
der Menschheit und spielt Verstecken – hinter ihren winzigen Handys, zwischen
ihren riesigen Schokoriegeln, neben der Achtlosigkeit, Seite an Seite mit
nichts, aber auch gar nichts, was von Bedeutung wäre.“
Nachdem die
Autorin und ihre drei Freunde den Tod auf dem Planeten „Winter“ überlebt haben,
fristen sie ihr Dasein als Zeit, Raum, Beständigkeit und Abgrund. Die
Charaktere mögen zunächst merkwürdig anmuten und versetzten mich in ihren
Handlungen und Äußerungen manchmal in grübelnde Verwirrung. Jedoch muss man
sich darüber im Klaren sein, dass alle vier Charaktere in ihrem vergangenen
Leben zu dem gemacht wurden, was sie nun waren.
Nichts
geschieht ohne Grund – und manchmal verbreitete sich wegen der Verhaltensweisen
große Traurigkeit in mir, beispielsweise wenn der Abgrund immer wieder Leben
ins Verderben riss. Zum Glück endet das Buch mit einem Silberstreifen am
Horizont. Die Hoffnung stirbt zuletzt.
„Es
ist sinnlos, jemandem die Wahrheit zu erzählen, der an Lügen glaubt.“
„Die
Autobiographie der Zeit“ ist ein wundervolles Buch, das inhaltlich und
emotional mit wenigen Worten eine extrem hohe Dichte und Tiefe erzeugt. Hier
ist nicht ein Satz zu viel, aber auch keiner zu wenig. Jede einzelne Silbe
sitzt. Lilly Lindner trifft mal wieder zielsicher mit ihren Wortpfeilen in Herz
und Seele und ruft eine Vielzahl verschiedener Gefühle in mir hervor und stimmt
mich häufig nachdenklich, sehr nachdenklich.
Am liebsten
hätte ich mich in den Roman gemogelt und die Zeit und ihre Gefährten ganz doll
gedrückt und ihnen gesagt, dass alles gut wird. Aber das wird es vielleicht
nicht. Denn die Zeit heilt nicht alle Wunden, das wäre zu einfach, aber vielleicht
offenbart sie Wege und Alternativen, mit denen es möglich ist, einen Weg zu
finden, um so den Tod auf „Winter“ tatsächlich zu überleben.
Inhalt
Lilly
Lindner ist ein literarisches Ausnahmetalent unter den jungen deutschsprachigen
Autorinnen. Seit sie ihr wortgewaltiges Debüt „Splitterfasernackt“ vorlegte –
die Verarbeitung ihrer eigenen Geschichte –, hat sie eine große Fangemeinde um
sich geschart. Auf ihren zahlreichen Lesungen bewegt und erschüttert Lilly
Lindner ihre Zuhörer, viele reisen ihr nach, um ihren Worten lauschen zu
können. Es ist die Sprache dieser Autorin, die den Menschen unter die Haut
geht. In ihrem neuen Buch erzählt Lilly Lindner die Autobiographie der Zeit –
eine faszinierende Geschichte voller Weisheit, Poesie und Kraft.
Autorin
Lilly
Lindner wurde 1985 in Berlin geboren. Bereits mit fünfzehn begann sie
autobiographische Texte und Romane zu schreiben. Ihr Debüt „Splitterfasernackt“
stand monatelang auf der Bestsellerliste. Zuletzt erschienen von ihr das
Jugendbuch „Was fehlt, wenn ich verschwunden bin“ und „Winterwassertief“.
Quelle: Droemer Knaur Verlag
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