Dienstag, 20. Dezember 2016

Gast-Rezi "Venus siegt" von Dietmar Dath

Moin ihr Lieben,

sehr zu meiner Freude gibt es heute wieder eine Rezi von Irve liest.


Wir bewegen uns einige Jahrhunderte in der Zukunft.
Nikolas Helander, der nun auf der Erde lebt, erinnert sich an seine Vergangenheit auf der Venus. Innerhalb kürzester Zeit fühle ich mich in einer ganz anderen Welt, und das ist sie auch – mehr als alles andere, was ich jemals literarisch kennengelernt habe. Die Modifizierung der Lebensformen ist so weit vorangeschritten, dass man sich keine Gedanken mehr über die hitzige Nähe zur Sonne oder über seine Atemluft machen muss. Der Mensch existiert nicht mehr in der Form, wie wir ihn kennen. Er ist schon auf dem besten Weg zur künstlichen, fremdgesteuerten Existenz – er ist eine der verschiedenen Lebensformen, die auf der Venus anzutreffen ist. Und nicht nur die Venus ist belebt. Auch die Erde ist es, Mars, Merkur, der Asteroidengürtel und andere Plätze im All. Es kocht zwar jeder sein eigenes Süppchen, aber durch die interplanetare Politik ist man miteinander verbunden….

Eigentlich ist die „Große Integration“ angestrebt.
Aber wie es immer so ist, wenn viele Köche den Brei rühren: Jeder will am besten sein und das meiste zu sagen haben, holt sich zur Not sein gefühltes Recht mit unlauteren Methoden. Der visionäre, hochentwickelte Frieden im All droht bald nicht nur, in die Kriegsvariante abzurutschen. Aber wundert das wirklich? Auf Erden herrscht ein sehr ehrgeiziger Politiker, der die Regentschaft an sich reißen will, auch auf den anderen Planeten will man sich sicher nicht den anderen zum Fraß hinwerfen…. Jedoch werden diese Schauplätze zumeist eher nur kurz gestreift oder erwähnt.

Die Erzählung Helanders offenbart scheibchenweise die Machenschaften auf der Venus…..
Und dass auch hier mehr Schein als Sein gilt, begreifen sowohl der Rückblickende als auch der Leser nach und nach immer deutlicher. Wer beherrscht wen? Die modifizierten Menschen oder die von ihnen selbst erschaffenen Künstlichen Intelligenzen? Sind die Überraschungen auf dem Weg zur Macht wirklich Überraschungen oder gut einkalkulierte Rückschläge, aus denen man erst recht neue Kampfeskraft schöpfen kann? Als das Spektakel beendet scheint, wird dem Leser ein aktualisiertes Standbild der Lage im Sonnensystem gezeigt. Ist es wirklich so starr, wie man es erwartet hatte? Auch hier schüttelt der Autor einige Überraschungen aus dem Ärmel, die nach genauerer Betrachtung gar nicht so unvorhersehbar waren.

Unser Erzähler ist hin- und hergerissen zwischen Faszination und Entsetzen.
Das große Experiment , von dem er berichtet, hat auch mir immer wieder große Augen beschert. Es ist so brisant, so umfassend – man kann fast sagen, „all“umfassend -, von so großer Tragweite, dass ich das gesamte Ausmaß erst nach und nach begreifen konnte. Glücklicherweise ist das Erzähltempo nicht allzu hoch. Der rote Faden entwickelt sich langsam, aber da es auch sehr viele kleinere Seitenstränge und handlungsmäßige Nebenschauplätze gibt, ist aufmerksames Lesen sehr ratsam.

Es gibt so vieles zu entdecken.
Die riesige Bandbreite an verschiedenen Lebensformen, die Rollenverteilung im System, die mich manchmal ansatzweise an das indische Kastensystem erinnerte. Die körperlichen Modifikationen, die emotionale Zerrissenheit, die großartigen Transportsysteme und was mich vor allem sehr faszinieren konnte: die genial konstruierte Methodik des Teilens von Gedanken und Wissen – „Big Brother is watching you!“, aber auf eine viel perfidere Art und Weise.

Die Charaktere sind facettenreich dargelegt.
Manchmal muss man auch ein bisschen zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, was die Figuren tun und was sie antreibt. Die protagonistische Mischung ist umwerfend variabel und gedankliche Grenzen sprengend, ebenso wie die kreativst weiterentwickelte und erläuterte Physik, die den fortschrittlichen Quantensprung in so vielen Bereichen ermöglichen konnte.

Passend und sehr stimmig zum Inhalt ist die stilistische Umsetzung des SciFi-Romans in ihrer Vielfältigkeit.
Zwischen Erzählphasen finden sich immer wieder im wissenschaftlichen Stil verfasste Passagen. Ebenso geht es manchmal flott im Geschehen voran wie andererseits auch sehr langsam, weil akribisch und detailliert beschrieben. Auch wunderschön ausgearbeitete Textstellen, die fast schon philosophisch anmuten, finden sich ebenso wie messerscharf auf den Punkt gebrachte Formulierungen. Auf die häufigen theoretischen Einspieler sollte man sich einlassen können, denn dann kann man ganz tief in diese zukunftsvisionäre Geschichte eintauchen, die durch ihren teils metaphorischen und kryptischen Stil gekennzeichnet ist.

Manchmal ist die Venus näher als man denkt und auch die weite Zukunft doch nicht so sehr entfernt, wie man glauben möchte. Denn Unterdrückung, Intrigen, Profilierungssucht und Gier sind uns Erdlingen doch gar nicht so fremd….

Inhalt
›Venus siegt!‹ – In der bearbeiteten und um 150 Seiten erweiterten Taschenbuchausgabe erzählt Dietmar Dath seine futuristische Geschichte des Sozialismus zu Ende.

Auf dem Planeten Venus findet in einigen Hundert Jahren ein gewaltiges soziales Experiment statt. Man will herausfinden: Gibt es eine Form des Zusammenlebens, in der Menschen, Roboter und künstliche Netzintelligenzen gleichberechtigt miteinander leben können?

In einer Revolution haben die Bewohner der Venus die irdische Herrschaft abgestreift. Doch das neue Regime, das verspricht, der Ausbeutung und Abhängigkeit ein für alle Mal ein Ende zu machen, muss sich gegen die äußeren und inneren Feinde mit harten Maßnahmen behaupten. Als Konsequenz daraus errichtet die Politikerin und Programmiererin Leona Christensen eine Diktatur.

›Venus siegt‹ erzählt die Geschichte aus der Perspektive eines Elitekindes der neuen Ordnung: Nikolas Helander ist der Sohn des Kulturlenkers und ersten Gehilfen der Diktatorin. Sein Leben, seine Liebe und sein politischer Weg zwischen Loyalität, Opposition und Krieg sind Teil einer großen Erzählung von Befreiung und Terror, Zwang und Emanzipation unter den Bedingungen höchstentwickelter Technik. Der Epilog »Venus lebt« zeigt, wie aus seinem Erbe lange nach seinem Tod etwas Unvorhersehbares wird, als Entscheidung alter Kämpfe und als Lösung tödlicher Rätsel.

Autor
Dietmar Dath, geboren 1970, ist Schriftsteller, Übersetzer, Musiker und Publizist. Sein Roman ›Die Abschaffung der Arten‹ ist 2008 in letzter Minute dem Deutschen Buchpreis entkommen, wurde dafür aber 2009 mit dem Kurd Laßwitz Preis ausgezeichnet, desgleichen 2013 sein Roman ›Pulsarnacht‹.

Quelle: S. Fischer Verlage

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