Donnerstag, 16. Dezember 2021

Autoren-Adventskalender -> Joachim Speidel

Ganz ehrlich: Ich musste erst mal nachschauen, wie unser aller Wikipedia „Ritual“ definiert:

Ein Ritual (von lateinisch ritualis ‚den Ritus betreffend‘, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt.

Okay! Das stimmt in etwa auch mit meinem Verständnis von „Ritual“ überein.

Wie aber sieht es bei mir persönlich mit Weihnachtsritualen aus? Tja, da muss ich sagen, dass ich einer Generation angehöre, die spätestens mit 14, 15 angefangen hat, Traditionen, Konventionen – und, ja, auch Rituale, egal welcher Art, kritisch zu hinterfragen und im Zweifelsfall – eigentlich also immer – über Bord zu werfen. Insofern existieren für mich heute auch keine Weihnachtsrituale, die mir persönlich wichtig sind

Wenn ich aber an die Weihnachtszeit meiner Kindheit zurückdenke, erinnere mich an etwas, was man vielleicht in die Rubrik „Brauchtum“ einordnen könnte: nämlich an das Bauen von Schneemännern!

Bei uns herrschte damals am Rande der Schwäbischen Alb schon Anfang Dezember richtiger Winter. Es schneite stunden- , tage- und manchmal wochenlang. (Jedenfalls kommt es mir in meinem nostalgischen Rückblick heute so vor. ;-)) Die Klimaerwärmung war in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts noch kein Thema.
Mit dem großen Bruder, mit Freunden und Nachbarskindern wurden Schneemänner gebaut, egal in welchem Garten, egal in welcher Größe.

Tja, und nach und nach wurden die Wintermonate wärmer, ich zog in eine Gegend, in der Wein angebaut wird, und das Schneemann-Bauen gehörte der Vergangenheit an. Es existiert vielleicht noch in nostalgischen Rückblicken wie diesem …

Oder in Erzählungen wie der folgenden …

 

Der Schneemann (Kurzgeschichte von Joachim Speidel)

Ja?
Ich bin der Schneemann, den Sie bestellt haben!
Der Schneemann? Ja, ich habe einen bestellt, aber ich hätte nie gedacht, dass sich der Schneemann persönlich bei mir vorstellt.
Ja, was haben Sie denn gedacht?
Nun ja, dass jemand kommt, um in meinem Garten einen Schneemann zu bauen. Zum Beispiel.
Das ist doch viel zu aufwendig. Da komme ich doch lieber selbst, so wie ich bin. Stelle mich eine Weile in Ihren Garten für die Zeit, die sie mich gebucht haben, und dann gehe ich wieder.
Wie? – Sie gehen dann wieder?
Wissen Sie, in Ihrer Nachbarschaft haben mich fünf andere Familien auch gebucht. Bei Schröders bin ich von acht bis neun. Bei Behrs von neun bis zehn, bei ...
Halt, halt, halt. Das geht mir zu schnell. Sagen Sie, wollen Sie nicht eintreten, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?
Ich bitte Sie, da würde ich ruckzuck wegschmelzen. Mir ist jetzt schon warm genug. Kaffee ist gut, aber er gibt Flecken!
Verstehe. Sie stehen also heute bei uns im Garten von sieben bis acht?
Genau!

Ist es Ihnen da nicht furchtbar kalt?
Ja, hören Sie! Ich bin ein Schneemann! Wenn mir kalt wäre, hätte ich einen anderen Beruf aussuchen müssen. Sagen Sie, für wen ist denn der Schneemann?
Für unseren Sohn, für Johnny, er ist jetzt drei. Die letzten Winter waren wir in Los Angeles bei meiner Schwester. Da schneit es ja so gut wie nie. Für Johnny wird das der erste Schneemann in seinem Leben sein.
Und Sie haben keine Zeit, selbst einen zu bauen!
Mein Mann hat Nachtschicht, und ich muss auch bald los. Wir haben, nun ja, leider keine Zeit dazu. Außerdem wollten wir einen großen, schönen Schneemann haben – so wie Sie einer sind! Den kann man morgens vor dem Frühstück nicht einfach so bauen.
Da haben Sie  recht.
Sagen Sie …
Ja?

Können Sie … ich meine als Schneemann … auch noch etwas anderes machen als …
… als was?
… als einfach nur herumstehen.
Wie stellen Sie sich das vor?
Na ja, sie könnten ja … ich weiß auch nicht  … ein wenig herumhüpfen oder herumtanzen oder …
Hören Sie mal, ich bin ein Schneemann. Meine Aufgabe ist es, einfach irgendwo im Schnee zu stehen.
Ja, ich weiß, aber ich meine nur … Das könnte vielleicht ein wenig langweilig werden. Ich meine, die Kinder von heute sind halt an Dynamik und Bewegung gewöhnt.
Tja, dann hätten Sie sich halt das Bolschoi Ballett  bestellen sollen, aber nicht einen Schneemann.  
Ich jedenfalls bin für so einen Unfug nicht zu haben.
Guten Tag, meine Dame!
Nein, nein, warten Sie. Seien Sie doch nicht gleich eingeschnappt! Das war doch nur so eine Idee von mir. Vergessen Sie, was ich gerade gesagt habe. Sie müssen sich nicht bewegen, wenn Sie nicht wollen.
Gut in Ordnung!
Warum nicht gleich so!
Also wirklich! Ein Schneemann, der sich bewegt!
Wo gibt’s denn so was?
Ja, ja, ja. Ich hab’s verstanden. Sie stehen also eine Stunde lang bei uns im Garten – einfach so …  als Schneemann.  
Korrekt! Und nun zeigen Sie mir endlich den Weg in Ihren Garten!
Aber klar doch! Ach ja, wenn Sie dann im Garten sind, mache ich das Licht im Wohnzimmer an und klopfe gegen die Scheibe, damit Sie wissen, wenn wir beide da sind.
Okay!
(Klopfen)
Schau mal, Johnny! Siehst du den Schneemann?
Siehst du ihn?
Siehst du, wie er dir zuwinkt?
Johnny? …
JOHNNY?  
He,  was ist denn? Warum rennst du denn weg?
Der Schneemann …
der ist ganz harmlos …
der will doch nur …
also …
ich meine …
Ach,  scheiß drauf!

J. S. Frank wünscht allen Zeilenzauber-Leserinnen und -Lesern ein fröhliches Weihnachtsfest (und empfiehlt passend zu der kalten Jahreszeit die herzerwärmende Geschichte einer taffen LKA-Beamtin und eines Mörders. Erzählt wird sie in der Thrillerserie „RACHE“ – alle 6 Folgen aktuell in einem Sammelband.)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Danke für deinen Kommentar. Er wird sichtbar, sobald er freigeschaltet wurde.